Viele Wall-Street-Banker leiden an Depressionen Psychologen: Die Gewinner der Finanzkrise
Wer in Manhattan lebt, trifft unweigerlich Wall-Street-Banker. Die meisten, mit denen ich das Vergnügen hatte, habe ich schnell stehen gelassen – oder sie mich. Die wenigen, die ich näher kennengelernt habe, sind als Bekannte oder „Freunde“ anstrengend. Zeitweilig unerträglich. (Sorry, Wayne).
Hektisch, neurotisch, verwöhnt und hochgradig volatil – Wall Street Banker
Sie sind wie die Wall Street selbst: hektisch, neurotisch, verwöhnt, hochgradig volatil (so nennt man eine Börse, die rauf und runter geht). Und natürlich von einer Arroganz, die an Größenwahn grenzt. Lauter Gordon Gekkos, wie Michael Douglas' Charakter in dem Film Wall Street. Masters of the Universe eben. Und das schon mit Anfang 30.
Der Grund: Geld. Oder wie wir in Amerika sagen: Green....
Nein, nein. Ich hab nichts gegen Geld. Aber wenn es im Überfluss da ist und der einzige Gradmesser für Erfolg oder Persönlichkeit ist, dann wird es problematisch.
Als die Finanzkrise am 15. September offenbar wurde, bekam ich von einem Banker-Freund Mails wie diese: „Hab Millionen verloren.“ Minuten später schrieb er: „Freu dich nicht zu früh. Ich habe noch ein paar Millionen.“ Die Message zwischen den Zeilen: „Ich bin kein Verlierer.“ Denn für Verlierer gibt es an der Wall Street keinen Platz. Schon gar nicht jetzt, da fast alle Verlierer sind.
In den Wochen darauf bekam ich weitere E-Mails, die bei überlebenden Investment-Bankern von Goldman Sachs oder Morgan Stanley die Runde machten: „Dies ist schlimmer als eine Scheidung. Ich habe die Hälfte meines Vermögens verloren, aber meine Frau ist noch da.“ Oder: „Optimismus ist, wenn ein Banker am Sonntag noch fünf Hemden für die Woche bügelt.“ Und: „Was ist der Unterschied zwischen einem Investment-Banker und einer Pizza? Eine Pizza kann eine vierköpfige Familie satt machen.“
Doch je länger die Krise anhält, desto mehr schlägt der Galgenhumor in Aggressionen oder Verzweifelung um. Besonders schlimm: Die Wall-Street-Banker, die im vergangenen Jahr noch gemeinsam für Villen, Jachten, Luxus-Autos oder Champagner-Partys unfassbare 250 Milliarden Dollar (so viel wie Italiens gesamte Bevölkerung) verpulverten, haben plötzlich Existenz-Ängste.
Jedes Mal, wenn ich meinen Freund Wayne treffe, sagt er mir: „Ich will nicht drüber reden.“ Doch wenig später sprudelt es dann aus ihm heraus. „Junge, ich schlafe kaum noch. Du kannst dir den Druck nicht vorstellen, unter dem wir jeden Tag neu stehen."
Folgen des neuen Lebensgefühls: Die kleine Trinity-Kirche an der Wall Street, die so wundersam den Anschlag des 11. Septembers überlebt hat, ist seit Wochen mit Männern und Frauen in Business-Anzügen gefüllt. Die Synagoge gleich neben der Wall Street, die 1929 (im Jahr des Crashs, der zur Großen Depression führte) fertig gestellt wurde, hat ihre Türen nun auch jeden Abend nach Börsenschluss geöffnet.
Die Zahl der Scheidungen von Paaren, die einst mehr als zehn Millionen Dollar wert waren, hat in New York dramatisch zugenommen. Scheidungsanwalt Raoul Felder, der Larry Fortensky gegen Liz Taylor oder Robin Givens gegen Mike Tyson und New Yorks Bürgermeister Rudy Giuliani gegen seine zweite Frau vertrat: „Ich habe in diesem Jahr 20 Prozent mehr Klienten als sonst.“
Vielen der „Masters of the Universe“ wird jetzt klar: „Sie meinte nicht mich, sondern meinen Lifestyle.“ Eine schmerzliche Erkenntnis. Doch damit nicht genug. Ihr gesamtes Selbstwertgefühl steht plötzlich in Frage.
Kenneth Mueller, ein New Yorker Psychologe, der sich auf Wall-Street-Banker spezialisiert hat: „Das Geld ist ein bisschen wie eine Sucht. Während andere Menschen sich in Alkohol, Spielcasinos oder Sex flüchten, haben sich Banker hinter ihrem Luxus versteckt. Wenn dies nicht mehr geht, setzt die Realität ein. Und dann fliegen zu Hause die Fetzen.“
Tatsächlich gehören Psychotherapeuten neben Scheidungsanwälten zu den großen Gewinnern der Finanzkrise. Die Zahl ihrer Patienten hat seit den Pleiten von Investment-Banken um bis zu 50 Prozent zugenommen. Die Banker leiden unter Angstzuständen und Depressionen und hoffen, dass Psychopharmaka wie Prozac ihnen aus der Sinnkrise helfen. Psychologe Ari Kiev: „Nach Jahren der Selbstüberschätzung setzen nun Gedanken ein wie: Vielleicht hatte ich nur Glück.“
Andere setzten ihr letztes Geld ein, in der Hoffnung, die Verluste gut zu machen. Wenn dies nicht gelang, blieb nur noch Panik.
Und dann ist da noch ein anderes Problem für die ehemaligen „Großkotze“: Sie haben sich in den fetten Jahren bei Freunden oft so unbeliebt gemacht, dass nun kaum jemand Mitleid mit ihnen hat.
Haben die Banker, die ihre Jobs nicht verloren haben, aus der Krise gelernt? Alles, was ich höre, sind Sprüche wie: „Jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen.“ Oder: „Dies ist die Zeit der Möglichkeiten. Wer noch im Geschäft ist, kann jetzt bald noch reicher werden, da sich weniger von uns den Kuchen teilen müssen...“ Mitleid für die arbeitslosen Kollegen? Wer hat schon Zeit für Loser? Dafür gibt es schließlich Psychologen, Scheidungsanwälte und Geistliche...