Keine Angst vor bösen Jungs
Von Gerhard Waldherr
Brennende Häuserfassaden, Straßengangs, Gewalt und Chaos - das verbinden viele immer noch mit den Straßen der Bronx. Ganz zu Unrecht. Denn das Viertel im Norden hat sich gemausert. Doch das nach wie vor schlechte Image bringt auch Vorteile mit sich.
"Hier", sagt Susan und deutet auf weiße Türme, kantig und kolossal, "die Executive Towers." Dahinter ein Palazzo aus Kalkstein auf einem kleinen Hügel, der auch in Rom stehen könnte. "Das Andrew Freedman Home", sagt Susan, "gebaut von einem Geschäftsmann als Heim für ehemals wohlhabende Senioren." Sie zeigt mir Haus für Haus: Das Fish Building in gediegenem Art déco, die Fassade verziert mit Mosaiken von Meeresgetier. Roosevelt Gardens an der 171. Straße, ein majestätischer Komplex, der einmal als größtes Apartmenthaus der Welt galt. Immer wieder verblichener Prunk, immer wieder Art déco und schließlich, kurz vor der Fordham Road, das ehemalige Kino Loew's Paradise Theatre. Pilaster und Balustraden schmücken die historistische Fassade, eine leuchtende Sonne prangt über dem Portal. Susan: "Ist es nicht großartig?" Das ist es.
Wir trafen uns um halb zwei nachmittags, Ecke 161. Straße und Grand Concourse. Sie wartete gegenüber dem alten County Courthouse, das noch immer als Gericht fungiert und das der ehemalige New Yorker Bürgermeister Fiorello H. La Guardia ein "goldenes Bollwerk" nannte. Tom Wolfe beschrieb es in seinem Roman "Fegefeuer der Eitelkeiten": "Es war ein gewaltiger Kalkstein-Parthenon, (...) seine vier mächtigen Fassaden waren absolute Jubelfeiern aus Skulpturen und Flachreliefs." Susan Birnbaum kam pünktlich, eine brünette, liebenswerte ältere Dame, die mich in ihren roten Toyota Camry einsteigen ließ. Wir fahren über den Grand Concourse, diesen bis zu 55 Meter breiten, von Bäumen gesäumten Boulevard, der den Champs-Élysées nachempfunden und im Jahre 1909 eingeweiht wurde. Lange war diese Straße eine der besseren Adressen New Yorks, man nannte sie die "Park Avenue der Mittelklasse".
Susan kennt die Geschichte des Grand Concourse, sie kennt das prächtige Interieur seiner Gebäude, ausgestattet mit Marmor und prunkvollen Kristalllüstern. Nicht weit vom Grand Concourse ist sie aufgewachsen, ihr Großvater arbeitete im Courthouse, sie später in einem Krankenhaus in der Nähe. Am Grand Concourse lernte sie ihren Mann kennen und dort kaufte sie auch ihr Hochzeitskleid. Nun ist Susan Touristenführerin in der Bronx, und wenn sie von früher erzählt, von einer ganzen Generation Mädchen, die im Loew's Paradise ihren ersten Kuss bekamen, wenn sie schwärmt von flanierenden Familien und Geschäften, in denen ganz New York einkaufte, dann wird sie wieder lebendig, die große Zeit der Bronx.
Die Bronx ist eines der fünf Boroughs von New York City. 109 Quadratkilometer groß liegt sie zwischen Hudson River und Long Island Sound, im Norden grenzt sie an Westchester County, im Südwesten trennt sie der Harlem River von Manhattan. Der erste europäische Siedler war ein gewisser Jonas Bronck, vermutlich ein Schwede, der 1639 aus Holland in die Neue Welt einwanderte. Die Bronx wurde 1898 endgültig Teil von New York City, damals war das Gebiet längst bevölkert von irischen, italienischen und deutschen Einwanderern. Schon bald darauf galt es als schick, in die Bronx zu ziehen. Bis in die 1930er Jahre blieb der Stadtteil begehrt. Doch das weiß heute kaum noch jemand. Weil alle sich nur noch an die urbane Katastrophe erinnern, die in den fünfziger Jahren ihren Anfang nahm.
Die Stadtverwaltung siedelte damals während ihrer "Slum Clearings" in Manhattan mittellose Puertoricaner und Afroamerikaner zwangsweise in der Bronx an. Die Hausbesitzer ließen ihre Häuser verwahrlosen, die Mieter bezahlten keine Mieten mehr, die Gegend verkam. Irgendwann brannten die Häuser, angezündet teils von Eigentümern, die von ihren Versicherungen kassieren wollten, teils von den Mietern, die auf eine neue Sozialwohnung spekulierten. Gewalt, Drogen und Chaos grassierten in der Bronx.
Und heute, sagt Doris Quinones, könne sie sich gar nicht entscheiden, in welchen Teil der Bronx sie am liebsten geht. "Fragen Sie mich nicht, welches meiner Kinder ich am liebsten habe, ich liebe sie alle." Die Direktorin des Bronx Tourism Council sitzt in Zimmer 123 des Courthouse, vom Fenster aus sieht sie den Joyce Kilmer Park mit einem prunkvollen Brunnen aus weißem Marmor, gekrönt von einer Darstellung der Loreley. "Auch so eine Kostbarkeit", sagt sie, "die kaum jemand kennt."
Die Bronx ist dicht besiedelt, und doch besteht sie zu 25 Prozent aus Parks. Allein der Pelham Bay Park ist elf Quadratkilometer groß, der Woodlawn Cemetery gehört zu den größten Friedhöfen der Stadt. In Riverdale im Westen schmiegen sich Villen und Herrenhäuser an grüne Hügel. Im Osten geht die Bronx an Orchard Beach baden. Dahinter liegt die kleine Insel City Island, wo früher Segelschiffe gebaut wurden und heute weiße Holzhäuschen mit Vorgärten stehen, die von Waschbären, Enten und Hasen Besuch bekommen.
Natürlich hat die Bronx auch ihre bekannten Sehenswürdigkeiten, die Tausende von Menschen anziehen: den Botanischen Garten etwa, 100 Hektar groß mit mehr als einer Million Pflanzen. Den Bronx Zoo mit seinem berühmten Gorillapark. Oder das neue Yankee Stadium, gleich hinter dem Grand Concourse, wo die erfolgreichsten Baseballer Amerikas zu Hause sind.
Und trotzdem: "Das Image der brennenden Bronx hält immer noch viele Leute ab, uns zu besuchen", sagt Quinones. Was auch daran liegt, dass immer noch ein Drittel der Menschen in der Bronx unterhalb der Armutsgrenze leben, dass es Straßenzüge gibt, die man nachts besser meidet. Dennoch ist Quinones optimistisch: "Die Menschen haben erkannt, dass wir das alte Image nicht verdienen."
Am nächsten Tag parkt Susan ihren Camry an der Arthur Avenue hinter dem Bronx Zoo. Die Restaurants hier heißen "Zero Otto Nove", "Umbertos Clam House" oder "Emilia's". "Vergessen Sie, was in Manhattan noch übrig ist", sagt Susan, "New Yorks wahres Little Italy liegt in der Bronx." Wir schlendern an "Mario's Restaurant" vorbei, das Schauplatz der TV-Serie "The Sopranos" war, in der es um eine Mafiafamilie in New Jersey geht.
Wie kamen die Italiener in die Bronx? Als 1895 der Bau des Zoos geplant wurde, brauchte man dafür Maurer, Steinmetze, Gärtner. Und wo ließ sich besser nach frischen, motivierten Arbeitskräften suchen als auf Ellis Island, wo die Schiffe mit den Immigranten landeten? "Das gesuchte Personal", so Susan, "fand sich damals meist unter Italienern, die wiederum ihre Verwandten und Freunde nachholten."
Die erste Generation der italienischen Einwanderer lebt schon lange nicht mehr, doch ihre Geschäfte und Traditionen sind geblieben.
In der Metzgerei "Calabria" wird die Wurst mit Fenchel immer noch so gemacht wie in Cosenza, behauptet jedenfalls der Chef des Hauses. In der "Casa Della Mozzarella" steht hinter dem Verkaufsraum ein kräftiger Mann an einem gewaltigen Bottich mit heißem Wasser. Er hat Unterarme wie andere Leute Oberschenkel und zieht und knetet die weiße Käsemasse. In "Mike's Deli" in der Markthalle an der Arthur Avenue verkauft Michele Greco, 82, grauhaarig und gut gelaunt, Focaccia und Sandwiches mit Namen wie "The Godfather" - laut Menü "Salami und Provolone, ein Angebot, das man nicht ablehnen kann". Und bei "Borgatti's" treffen wir Chris Borgatti, den Enkel des Geschäftsgründers, der uns in die Kunst einweist, die besten Ravioli New Yorks zu machen. "An Wochenenden stehen die Kunden hier überall Schlange", sagt er.
So sehr die Bronx unter dem Image eines gesetzlosen, drogenverseuchten Großstadtsumpfs gelitten hat - es hat sie vor einer Entwicklung bewahrt, die zuerst Manhattan und inzwischen auch große Teile von Brooklyn und Queens prägt. Man nennt es gentrification, und dahinter verbirgt sich das Diktat von Kommerz und Gleichförmigkeit, das wohlhabende Wohngegenden schafft, in die sich die allgegenwärtigen Coffeeshops, Boutiquen und Restaurantketten einmieten.
Die Bronx hingegen hat ihren Charakter bewahren können: Sie ist charmant und elitär in Riverdale, wo früher die Kennedys oder Arturo Toscanini wohnten; sie ist ein bunter, wilder Mix der Ethnien und Kulturen rund um den Grand Concourse und die Arthur Avenue; und sie ist immer noch ruppig und rau in der South Bronx, wo längst keine Häuser mehr brennen.
Kellie Terry-Sepulveda arbeitet da, wo früher das Chaos regierte. In einer ehemaligen Großbäckerei an der Garrison Avenue in Hunts Point organisiert sie als Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation "The Point" Malkurse, Fotokurse, Theaterveranstaltungen für Jugendliche aus armen Verhältnissen. Kellie steht im Theaterraum von "The Point" vor Fotos von Charlie Palmieri und Tito Puente, die als Kinder puertoricanischer Einwanderer in den sechziger Jahren zu Salsa-Stars wurden.
"Als die South Bronx in den Siebzigern am Boden lag, hatten die Jugendlichen hier auch nichts außer Musik", sagt Kellie. "Sie zapften den Strom von Straßenlaternen an, stellten ihre Plattenspieler, Verstärker und Boxen in Keller und auf die Straßen und begannen zu scratchen, zu breaken, zu rappen." Die Jungs von damals machen noch immer Musik. Sie heißen Grandmaster Flash, Afrika Bambaataa und Kool DJ Herc, und sie erfanden hier in diesen Straßen den Hip-Hop.
Nicht Susans Musik. Wie auch die South Bronx nicht ihre Welt ist. Susan wohnt in Riverdale, in einem Hochhaus mit Blick auf den Hudson River, wo eine Eigentumswohnung mindestens eine halbe Million Dollar kostet. Am liebsten sitzt sie im Wave Hill Park zwischen Birken und Magnolien. Dort steht ein Herrenhaus, in dem einst Mark Twain lebte. Sie schaut dann auf den Kräutergarten, über dem Zitronenfalter tanzen, wandert durch die Gewächshäuser mit Kakteen und Agaven, bewundert die Teiche voller Goldfische und japanischer Karpfen. Vom Park aus kann sie die George Washington Bridge sehen, und sie sagt, dass sie immer wieder staunt, "wie nah wir dem Zentrum New Yorks sind und wie weit von ihm entfernt".