STÄDTEBAU
Das Raster für die Zukunft New Yorks
Von Alexander Kulpok
Rasant und unkontrolliert dehnte sich New York zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf der Insel Manhattan aus. Bis Bürgermeister DeWitt Clinton 1811 einen einzigartigen städtebaulichen Entwurf vorlegen ließ: "the grid" - den Grundriss einer streng geometrisch geordneten Weltstadt.
Dieser Plan geht über alles hinweg. Über Wege und Farmen, über Hügel, Felsen, Wasserläufe und Sümpfe auf der Insel Manhattan – und über das Erbe kolonialer Herrschaft. In seiner Kühnheit ist er überwältigend und großzügig, aber auch einförmig und brutal. "The grid", ein Gitter aus Straßen, ist der Masterplan für die Neugestaltung und das geordnete Wachstum des bislang zügellos boomenden New York.
Als die Mitglieder der auf Betreiben des New Yorker Bürgermeisters DeWitt Clinton gegründeten Planungskommission im Frühjahr 1811 eine zweieinhalb Meter breite Karte entrollen, zeigt die eine Sensation: den Grundriss einer Stadt mit einer Million Menschen – zehnmal so viele, wie zu diesem Zeitpunkt in New York leben. Hier scheint sich ein amerikanischer Traum von Machbarkeit, Erfolg und Größe in der Stadtplanung zu erfüllen. Eine Anmaßung.
Mit Macht dehnt sich New York zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Manhattans Südspitze nach Norden aus. Zuwanderer lassen die Einwohnerzahl bis 1810 auf nahezu 100.000 anschwellen – und sie wächst stetig weiter. Schon zu diesem Zeitpunkt ist New York der größte Überseehafen der USA und deren bevölkerungsreichste Stadt; an Wirtschaftskraft kann nur noch Philadelphia mit der entstehenden Metropole konkurrieren.
DeWitt Clinton, 1803 mit 34 Jahren erstmals zum Stadtoberhaupt von New York ernannt, sieht die Chance, seine Vision von New York als Zentrum einer künftigen Weltmacht USA zu verwirklichen.
Er will eine "amerikanische Stadt" entstehen lassen. Einen klar gestalteten Ort, wirtschaftlich und politisch mächtig und zugleich jenen Idealen der Demokratie verpflichtet, die 20 Jahre zuvor in die Verfassung der USA geschrieben worden sind. Eine Kommission soll dem großen Wunschtraum zur Wirklichkeit verhelfen.
In deren Auftrag zieht der Landvermesser John Randel Tag für Tag über Manhattan. Kämpft sich durch Sümpfe und felsige Hügelketten, durch Ländereien und Wildnis. Notiert Höhenunterschiede, skizziert die mögliche Lage zukünftiger Straßenzüge und Bauten.
1811, nach vier Jahren Arbeit, ist der Plan für New Yorks Zukunft vollendet: ein rund 40 Quadratkilometer großes Netz aus zwölf Längs- und 155 Querstraßen, das sich auf mehr als zwölf Kilometern bis weit hinauf an den Harlem River erstreckt. Gleichförmig gliedern die Straßen den Großteil Manhattans in mehr als 1500 Grundstücksblöcke, in akkurate Rechtecke von etwa 240 mal 60 Metern. Markieren den Triumph über Unordnung und Natur.
Sogar den Broadway, den seit frühester Zeit genutzten Verbindungsweg zwischen Südspitze und Norden Manhattans, wollen die Planer zu großen Teilen verschwinden lassen. Sie können sich aber nicht durchsetzen: Als einzige bedeutende Ausnahme durchschneidet er diagonal das rechtwinklige Straßennetz. Sonst aber entspricht der Entwurf dem demokratischen Gleichheitsgrundsatz. Die Straßen folgen keiner Hierarchie, tragen keine Namen, sind konsequent durchnummeriert. Es gibt keine Kreisel, keine sternförmigen Plätze, keine Prachtboulevards.
Das Straßenraster ist das Gegenmodell zu den unregelmäßig gewachsenen Städten der Alten Welt, aber auch die Antwort des von der Kolonialherrschaft befreiten Amerika auf den Prunk europäischer Monarchen. Zudem, so die Planer, seien "gerade ausgerichtete und rechtwinklige Häuser am billigsten zu bauen und am komfortabelsten zu bewohnen".
Tatsächlich geben solch pragmatische Überlegungen wohl den Ausschlag: Die neu gestaltete Stadt soll gut regierbar sein und einen reibungslosen Verkehr ermöglichen. Man will sie leicht reinigen können, um Seuchen zu verhindern. Und: Die Stadtväter wollen Ruhe und Ordnung ohne große Mühe aufrechterhalten. So dokumentiert der Entwurf der Kommission auch eine bis dahin nie gekannte Kombination von planerischer Nüchternheit und sozialer Kontrolle.
Die Parlamentsabgeordneten des Bundesstaates New York in Albany nehmen den Plan noch 1811 an. Dann beginnen Arbeiter damit, Hügel einzuebnen und Sümpfe trockenzulegen, neue Straßen zu bauen und alte Häuser abzureißen.
Optimal fürs Immobiliengeschäft
Den Grund, auf dem die Straßen angelegt werden, requiriert die Stadt. Die Vorbesitzer erhalten Entschädigungen, doch die sind für viele kleine Landeigner nur ein schwacher Trost. Denn das Gitter zerschneidet ihre Parzellen; zudem müssen sie sich an den Kosten der Erschließung beteiligen.
Die Verantwortlichen ignorieren alle Proteste. Auch weil die großen Landeigentümer – aus deren Familien die meisten politisch Mächtigen und selbst die Mitglieder der Kommission stammen – von dem Plan profitieren: Die regelmäßigen Areale des Rasters sind bestens geeignet für Immobiliengeschäfte im großen Stil. Häuserblock für Häuserblock schiebt sich New York City nun in einem fein justierten Gitter die Insellandschaft Manhattans hinauf.
Es ist DeWitt Clinton, der das Wachstum der Stadt weiter befördert. Ab 1810 bereits unterstützt er die Idee, einen Kanal vom Hudson River zu den Großen Seen zu graben, um New York so mit dem Kernland des Kontinents zu verbinden. Gegen alle Widerstände bringt Clinton das Großprojekt auf den Weg. 1825 weiht er, inzwischen Gouverneur des Bundesstaates New York, den Kanal feierlich ein.
Mit dieser Schiffsverbindung ist die Stadt nun mehr denn je Drehscheibe des Handels. In den folgenden Jahrzehnten wächst sie rasant an. Um 1840 wohnen in Manhattan bereits mehr als 300.000 Menschen.
Doch diesen Aufschwung erlebt Clinton nicht mehr mit: 1828 stirbt er 58-jährig an den Folgen eines Reitunfalls. Und so bleibt ihm auch erspart, die größte Revision der durch ihn initiierten Stadtplanung hinzunehmen.
Denn das 1811 beschlossene Straßenraster sah nur eine Handvoll öffentlicher Plätze und keinerlei größere Grünflächen vor. Manhattan sei von kilometerlangen Ufern umgeben, hatte die Kommission festgestellt: genügend Raum für die Einwohner, um frische Luft und Erholung zu finden.
Um 1850 aber fordern Reformpolitiker einen großen Park, einen Ort im Inneren der Stadt, an dem alle New Yorker – reiche und arme – ihre Freizeit verbringen und sich treffen können. Unterstützt werden die Reformer von wohlhabenden Bürgern, die jedoch andere Ziele verfolgen. Sie wollen eine repräsentative Anlage, die den Vergleich mit den Parks europäischer Metropolen nicht zu scheuen braucht – und in der sie mit ihren Kutschen ausfahren können. Die großen Landbesitzer versuchen so auch den Wert ihrer angrenzenden Grundstücke zu steigern.
Nach langen Diskussionen beginnen die Behörden 1853 schließlich damit, eine 280 Hektar große Fläche nördlich der 59th Street aufzukaufen: hügeliges, schwer zu erschließendes Terrain, in einiger Entfernung vom schon dicht besiedelten Stadtgebiet. Die rund 1600 Bewohner des Geländes, überwiegend Schwarze sowie Immigranten aus Irland und Deutschland, müssen weichen, ihre Häuser, Kirchen und Friedhöfe verschwinden.
Wieder wird eine Kommission ins Leben gerufen, die für die Gestaltung des Parks einen Wettbewerb ausschreibt. Der gemeinsame Entwurf des amerikanischen Journalisten Frederick Law Olmsted und des englischen Architekten Calvert Vaux gewinnt.
1858 beginnen die Arbeiten. Tausende Tonnen Muttererde werden herbeigeschafft, Bäche, Seen und Wälder angelegt, dazu kilometerlange Wege sowie Brücken. 1863 bis zur 110th Street erweitert, erstreckt sich die öffentliche Grünanlage schließlich über 340 Hektar Fläche im Herzen Manhattans – 151 Blöcke des ursprünglichen Gitternetzes, die nun ganz anders genutzt werden, als es DeWitt Clinton 1811 im Sinn hatte.
Doch der Bürgermeister hätte vermutlich auch an diesem Projekt Gefallen gefunden: Denn der "Central Park", bald von Bürgern aller Schichten besucht, wird zum demokratischen Glanzstück der New Yorker Stadtplanung.
source spiegel
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