US-Reformpolitik
Obamas Gesundheits-Kompromiss verschont die Pharmaindustrie
Fernando Rojas, ein Web-Designer aus San Francisco, ahnte, was als nächstes kam. Denn ähnliche Briefe hatte er schon oft erhalten: So kündigt Anthem seine Prämienerhöhungen an.
Deren Ausmaß übertraf diesmal aber alles Vorherige. 39 Prozent mehr würde ihn seine
Krankenversicherung künftig kosten. Rojas' Monatsrate schwillt demnach von 858 Dollar auf 1192 Dollar an - zuzüglich der 5000 Dollar Selbstbeteiligung. "Da kann ich mir mein Insulin ja gleich auf dem Schwarzmarkt kaufen", stöhnt Rojas, der an Diabetes leidet.
Rund 800.000 Anthem-Kunden in Kalifornien starrten im Februar auf vergleichbare Horrorschreiben. Die Versicherung - eine Tochter von WellPoint, einem der größten US-Gesundheitskonzerne - rechtfertigt den Preisschub für Privatkunden mit "erschwerten Marktbedingungen", sprich der landesweiten Kostenexplosion bei Medikamenten, Ärzten und Kliniken. Wem das nicht gefalle, der könne sich gerne anderswo versichern lassen: "Unsere Kunden haben die Wahl."
Ein Witz: Auch bei anderen Kassen stehen die Dinge kaum besser. Und das Marktargument fällt sowieso flach: Fünf Top-Versicherer - WellPoint, UnitedHealth, Aetna, Humana und Cigna - beherrschen die Branche, haben sich viele Regionen in Fast-Monopole aufgeteilt und räumten voriges Jahr so insgesamt 12,2 Milliarden Dollar Gewinn ab, 56 Prozent mehr als 2008. "Es war das beste Jahr für die großen Versicherungen", resümiert die Grassroots-Gruppe Health Care for America Now (HCAN).
Damit soll nun aber Schluss sein. Mit der historischen Gesundheitsreform, die der US-Kongress jetzt unter lautem Protest der Republikaner verabschiedete, wollen die Demokraten solchem Missbrauch ein Ende setzen. Kein Wunder, dass die Wirtschaft bis zuletzt massiv dagegen angekämpft hat. Das neue Gesetz, drohte Karen Ignagni, die Chefin der Versicherungsgruppe AHIP, werde nach hinten losgehen: "Es wird die Kosten für Familien und Arbeitgeber nur noch erhöhen."
"Eine Reform, die die Republikaner lieben sollten"
Damit hat sie womöglich nicht ganz unrecht. Das Reformgesetz HR 3590 legt den US-Versicherungskonzernen zwar einige Fesseln an und bietet rund 32 Millionen bisher unversicherten Amerikanern künftig erstmals Versicherungsschutz. Doch es enthält ebenso viele Kompromisse und Schlupflöcher, von denen die Industrie wiederum profitiert.
"Das Gesetz ist zutiefst mangelhaft", kritisiert das linke Blatt "The Nation" das als großen Wurf verkaufte Reformpaket. "Es greift zu kurz." E.J. Dionne, Kolumnist der "Washington Post", sieht darin eine beißende Ironie: "Die Demokraten engagieren sich für eine Reform, die eigentlich die Republikaner lieben sollten."
Denn bei genauem Hinschauen zeigt sich: Dies ist eine sehr industriefreundliche Reform. Die konkreten Folgen für den einzelnen Patienten sind noch nicht absehbar. Kritiker befürchten allerdings, dass die Kassen neue Lasten auf die Kunden abwälzen werden.
Trotzdem haben die Konzerne in einer breiten Koalition mit Mittelstandsfirmen, die von den neuen Versicherungsregeln betroffen wären, bis zum Schluss gegen die Reform gekämpft. Die US-Handelskammer, die die Aktion koordinierte, gab bis zu 30 Millionen Dollar für TV-Spots, Internetkampagnen, gezielte Umfragen und Pressekonferenzen aus, um gegen das leidige Gesetz zu polemisieren. "Diese Gesetze sind Jobkiller", behauptete die Interessenvereinigung noch am Wochenende.
Die schlimmste Bedrohung ihrer Allmacht konnten sie so vorab aushebeln. Die Idee einer sogenannten "public option" - eine staatliche Krankenversicherung als Konkurrenz zur privaten Versicherung, um die Prämien zu drosseln - wurde fürs erste wieder verworfen.
Und das, obwohl US-Präsident Barack Obama sie zu einem Kernpunkt seines Wahlkampfes erhoben hatte. Die progressive Vision zerbrach am Widerstand moderater Demokraten, die in ihren Bezirken einen schweren Stand haben gegen die Populisten von rechts. Um die am linken Flügel zu trösten, hat ihnen Harry Reid, der Demokratenchef im Senat, eine separate Abstimmung über eine "public option" in den "kommenden Monaten" versprochen.
Kunden mit HIV kurzerhand aussortiert
Aber auch sonst dürfen sich die Versicherer erst einmal freuen: Die Reform beschert ihnen 32 Millionen potentielle neue Kunden - allesamt Amerikaner, die sich bisher keine Krankenkasse leisten konnten und demnächst dank kräftiger Staatsubvention dazu in der Lage sein werden. Mehr noch: Das Gesetz zwingt sie, sich versichern zu lassen, sonst droht ihnen Strafe. Wohin wandern sie also? Unter die Fittiche von WellPoint, Aetna & Co.
Sicher, die US-Regierung hat versprochen, die exzessiven Versicherungsprämien mit einer neuen, zentralen Kontrollbehörde in den Griff zu bekommen. Doch viele Fragen bleiben ungeklärt. Was zum Beispiel heißt exzessiv? Und: Kann und darf Washington in die Krankenversicherungsbranche, die bisher auf bundesstaatlicher Ebene reguliert wird, hineinregieren? Es ist zu befürchten, dass dieses Versprechen in einer ähnlichen Enttäuschung wie die Finanzreformen endet.
Einen der schwersten Missstände behebt die Reform aber doch. Bisher durften die Konzerne Kunden den Versicherungsschutz verweigern oder kündigen, wenn sie ihnen eine "pre-existing condition" nachweisen konnten - eine Krankheit, die bereits vor Abschluss der Versicherung vorgelegen hat. Damit halten sich die US-Firmen chronisch Kranke vom Hals oder werden sie rückwirkend los, wenn sie ihnen zu teuer werden.
So identifizierte der Versicherungskonzern Assurant Health per Computerprogramm alle seine Kunden, die HIV-positiv waren, und entzog ihnen dann systematisch die Deckung - indem er ihnen vorwarf, sie seien bereits vor Vertragsabschluss infiziert gewesen. Vor dem Kongress verteidigte Don Hamm, der Vorstandschef von Assurant Health, diese Praxis als notwendig, um die Prämien für die anderen Kunden "erschwinglich" zu halten.
Die Reform verbietet solche Unmenschlichkeiten fortan. Der Nachteil: Als "unvermeidbare" Konsequenz drohen die Konzerne nun mit Prämienerhöhungen für alle.
Senioren - ein neuer Milliardenmarkt
Auch hat der Kongress parallel einen anderen Missstand per Gesetz behoben: Bisher waren US-Krankenversicherungen vom staatlichen Kartellverbot ausgenommen. Dieses Privileg, das zu den örtlichen Quasi-Monopolen geführt hatte, wurde nunmehr wieder aufgehoben.
Doch "big insurance", wie die Konglomerate auch heißen, muss sich trotz der Reform nicht sorgen: "Die Versicherungen", prophezeit "Nation", "werden jeden Trick in ihrem Repertoire nutzen, um den ohnehin wackligen Verbraucherschutz zu schwächen und Risiken und Kosten an die Kunden abzuwälzen."
Auch die US-Pharmabranche braucht sich nicht zu grämen. Sie ist so zufrieden mit Obamas Reformen, dass sie sie mit einer eigenen PR-Kampagne sogar kräftig unterstützt hat - obwohl auch hier haarsträubende Zustände herrschen: Die US-Medikamentenpreise sind die höchsten der Welt, und die Pharmaindustrie ist der profitabelste Wirtschaftszweig in den USA.
Dass die Pharmakonzerne weitgehend geschont werden, liegt an einem Kompromiss, der auf Geheimtreffen im Weißen Haus ausgekungelt wurde und viele Progressive auf die Palme treibt: Obama ließ die Vorlage verwässern, im Gegenzug sicherten ihm die Konzerne Flankenschutz zu.
So willigten sie ein, die Medikamentenkosten pro Jahr um acht Milliarden Dollar zu drosseln und über zehn Jahre hinweg 28 Milliarden Dollar an neuen Gebühren auf sich zu nehmen. Das glauben die Hersteller aber durchs Hintertürchen leicht wieder einspielen zu können. So wird die Reform die meisten bisher unversicherten US-Senioren auf Staatskosten unter den Versicherungsmantel bringen. Die brauchen Arzneien - ein neuer Milliardenmarkt.
Nach einem öffentlichen Aufschrei hat die Versicherung Anthem Blue Cross ihre saftige Prämienerhöhung jetzt erst einmal auf Mai verschoben. Sie will eine Prüfung durch den kalifornischen Versicherungsbeauftragten Steve Poizner abwarten - ein Republikaner, der für das Gouverneursamt kandidiert. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben: "Unsere Entscheidung, die Prämienanpassung zu vertagen", beharrt Anthems Kalifornien-Präsident Brian Sassi, "ändert nichts am grundlegenden Problem."
source: spiegel
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