62-jährige Surferin auf Hawaii
Süchtig nach Brett und Brechern
Der weiße Schopf fällt auf, wenn man den Surfern in der Ala Moana Bowl, einem Surfspot östlich von Waikiki Beach, zuschaut. Während braungebrannte Teenager und muskulöse Mid-Ager damit beschäftigt sind, auf ihrem Brett eine gute Figur abzugeben, schnappt sich eine zierliche Dame mit weißer Kurzhaarfrisur immer wieder die besten Wellen. Sie surft sehr gut und - für ihr Alter ungewöhnlich - immer noch mit einem kurzen Board.
Als Jeannie Chesser kurz nach 8 Uhr aus dem Wasser kommt, reicht es ihr - die besten Wellen surft sie schon zwei Stunden früher. Die 62-Jährige gehört zu den ältesten surfenden Frauen auf Hawaii und gewinnt noch mühelos Wettbewerbe. Doch für Jeannie ist Surfen nicht nur ein Sport, es hält sie am Leben. Wenn sie ihre Geschichte erzählt, beginnt man zu verstehen, warum.
Die Insel Oahu ist das Surfer-Mekka, selbst für die wellenverwöhnten Hawaiianer. An keine Küste prallen so große und aufregende Wellen wie an den North Shore, kein anderer Strand bietet so gute Möglichkeiten in den Sport einzusteigen wie Waikiki Beach. Doch auf der Jagd nach der perfekten Welle ist es voll geworden, das merkt auch Jeannie. Sie surft seit 20 Jahren in der Bowl und kann sich an Zeiten erinnern, in denen sie die Wellen für sich allein hatte. Dennoch denkt sie nicht ans Aufhören. "Ich möchte am liebsten auf meinem Brett sterben", sagt sie.
"Surfen machte mich süchtig"
Wenn Jeannie surft, sieht sie nur kristallklares Wasser, den Felsen Diamond Head und die umliegenden Sandstrände. Die nicht wirklich schöne Skyline Honolulus steht etwas versetzt. Ein ähnlicher Blick muss sich Duke Kahanamoku Anfang des 20. Jahrhunderts geboten haben. Er gilt als der Begründer des modernen Wellenreitens und surfte ebenfalls in der Brandung vor Honolulu. Nachdem der Sport 1823 von den Missionaren als unsittlich verpönt und verboten wurde, entdeckte Kahanamoku das Surfen erneut. Heute steht seine in Bronze gegossene Figur mit hawaiianischen Blumenketten geschmückt am Waikiki Beach.
Den absoluten Surfboom erlebte Hawaii in den fünfziger Jahren. Knapp zehn Jahre später erreichte die Trendsportart das amerikanische Festland - und Jeannie war sofort Feuer und Flamme. Damals wohnte sie noch in Miami und begann mit 14 Jahren gemeinsam mit einer Freundin zu surfen - ursprünglich nur, um die schönen Surferjungs zu beeindrucken, erzählt sie und grinst. Doch ihre erste Liebe wurde nicht ein surfender Teenager, sondern das Meer.
"Das Wasser ist mein Element. Ich merkte schnell, dass Surfen für mich nicht nur ein Sport war, sondern mich süchtig machte", erklärt Jeannie. Nach dem Tod ihres Mannes zog die 22-Jährige daher mit ihrem kleinen Sohn Todd nach Hawaii, wo Leben und Surfen eins ist.
Hier auf dem polynesischen Insel-Archipel trifft man sich nach Feierabend in den Wellen, man plauscht über den Tag, die Pläne, das Leben. In den Morgenstunden werden einschlägige Internetseiten durchforstet, auf der Suche nach den besten Brechern in der Umgebung. Erlebt man einen Einheimischen ausnahmsweise hektisch, kann man sicher sein, dass es in der Nähe gute Wellen gibt. Es scheint, als würde sich der Alltag auf Hawaii nach dem Wellengang richten.
Tödlicher Ritt am North Shore
Nicht wenige Hawaiianer haben ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Als professioneller Surfer lässt sich inzwischen Geld verdienen, und so manch einer wird von klein auf darauf getrimmt, Profi zu werden.
Bei Jeannies Sohn Todd war das anders. Seine Mutter sitzt in ihrem etwas spärlich beleuchteten Wohnzimmer, als sie von ihm erzählt. Die Wände sind tapeziert mit selbstgemalten Bildern, die Gemälde zeigen nur ein Motiv: perfekte Wellen. Von ihrer Kunst lebt Jeannie heute, auch Surfbretter bemalt sie. Die Regale sind voll mit Trophäen und vielen Fotos. Sie porträtieren die Surferin und ihren Sohn.
Todd surfte mit seiner Mutter schon als Kind, favorisierte dann aber eine Karriere als BMX-Fahrer. Später kehrte er zurück auf das Surfboard und wurde einer der besten Big-Wave-Surfer Hawaiis. Die großen Wellen, sogenannte Big Waves, findet man nur am North Shore von Oahu. In den Wintermonaten preschen hier bis zu zwölf Meter hohe Brecher an Land.
Um den Ritt ihres Lebens zu erleben, lassen sich die wagemutigen Profis hier von Jetskis in die Fluten ziehen. Dann gibt es kein Zurück mehr - Naturgewalt und Mensch treffen aufeinander. Am kilometerlangen Sandstrand Sunset Beach wird jedes Jahr im November das Triple-Crown-Surfevent ausgetragen. Wenn die Wellen am höchsten sind, treten hier nur die Besten der Besten an, Todd war einer von ihnen. "Ich habe mich immer mit kleineren Wellen zufrieden gegeben, aber Todd war fasziniert von den Wellen am North Shore", sagt Jeannie. "Und er ist 1997 beim Surfen am North Shore gestorben", fügt sie hinzu. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich, und plötzlich sieht man ihr ihre 62 Jahre an.
Angekommen im eigenen Leben
Der Tod ihres einzigen Sohnes zeichnet Jeannie, dennoch stürzt sie sich jeden Morgen erneut in die Fluten. Es ist ihre Art, mit der Trauer umzugehen. Nirgendwo fühlt sich Jeannie mehr mit Todd verbunden als beim Surfen. Als sie selbst schwer an Krebs erkrankte, paddelte sie nur wenige Tage nach der lebensrettenden Operation wieder in der Ala Moana Bowl. "Ich konnte zwar noch nicht surfen, aber allein auf meinem Brett im Wasser sein zu können hat mich kuriert", sagt Jeannie.
Nur wenige Monate nachdem sie die Chemotherapie überstanden hatte, nahm Jeannie wieder erfolgreich an Wettbewerben teil. Ihren ersten hatte sie bereits 1965 in Florida gewonnen, 1992 wurde sie US-Champion. Erst diesen Juni gewann sie den Roxy Wahine Classic Contest, einen der größten Wettbewerbe in Honolulu. Doch Jeannie versteht solche Veranstaltungen nicht als Geldquelle oder Konkurrenzkampf, für sie ist es nur eine Möglichkeit, mit der Surferfamilie einen schönen Tag zu verleben.
Dass Surfen für Kraft und die Lebensqualität sorgt, bezweifelt auf Hawaii niemand. Kaum ein Auto passiert ohne ein oder mehrere Bretter auf dem Dach, selbst die Fahrräder haben auf Hawaii eine Vorrichtung eigens um Surfboards zu transportieren. Auf der Straße grüßt man sich mit dem Hang-Loose-Zeichen, und die Szenerie ist generell entspannt. Wer auf Hawaii wohnt, scheint angekommen zu sein, angekommen auf einem wahrhaft schönen Fleck der Erde und angekommen im eigenen Leben.
So auch Jeannie. Obwohl das Schicksal sie manchmal hart beutelte, strahlt sie Zufriedenheit aus. Nur wenn das Wetter schlecht ist und sie nicht auf Wellen hoffen kann, wird Jeannie nach eigener Aussage unausstehlich. Das Surfen ist ihr Tor zum Glück.
source: spiegel
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